MS

Cladribin

Indikation

Cladribin (Mavenclad®), ein selektives Immunsuppressivum, ist gemäß der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) in Deutschland seit August 2017 zur Therapie der hochaktiven schubförmigen Multiplen Sklerose (MS) bei Erwachsenen zugelassen. Diese Indikation erfordert eine eingehende Nutzen-Risiko-Abwägung, die auf der Basis der vorliegenden Zulassungsstudien CLARITY, CLARITY EXTENSION, ORACLE-MS und ONWARD getroffen werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Studiendaten kann Cladribin bei folgenden Patientengruppen eingesetzt werden:

Patienten, die unter der Therapie mit einem verlaufsmodifizierenden Medikament eine hohe Krankheitsaktivität aufweisen, d.h.

im vorausgegangenen Jahr …
… unter einer verlaufsmodifizierenden Therapie mindestens einen Schub gehabt haben und
… mindestens neun T2-hyperintense Läsionen oder mindestens eine
Gadolinium-anreichernde Läsion in der kraniellen MRT aufweisen.

Patienten mit zwei oder mehr Schüben im vorausgegangenen Jahr, unabhängig davon, ob sie mit einer verlaufsmodifizierenden Therapie behandelt wurden oder nicht.

Kontraindikationen

Cladribin ist kontraindiziert bei …

  • Hypersensitivität gegenüber dem Wirkstoff oder einem der sonstigen Bestandteile des Arzneimittels.
  • Schwangerschaft und in der Stillzeit.
  • schweren floriden Infektionen. Daneben sollte es nicht bei chronischen Infektionen (z.B. chronische Hepatitis, HIV-Infektion) oder rezidivierenden bakteriellen Infektionen (z.B. Tbc) angewandt werden.
  • immundefizienten Patienten.
  • Patienten mit mittelschweren oder schweren Nierenerkrankungen (Kreatinin-Clearance < 60 ml/min).
  • Patienten mit mittelschweren oder schweren Lebererkrankungen.
  • Impfung mit einem Lebendimpfstoff in den vorangegangenen vier bis sechs Wochen, z.B. Impfung gegen Varizella-Zoster-Virus (VZV), Typhus, Gelbfieber etc.
  • aktiver maligner Erkrankung.

Eine relative Kontraindikation besteht bei …

  • Patienten mit signifikanter Infektionsneigung (z.B. Dekubitus, Aspirationsneigung, rezidivierende Harnwegsinfekte, respiratorische Infekte).
  • Patienten mit malignen Vorerkrankungen in der Vorgeschichte.
  • Fruktose-Intoleranz, da die Cladribin-Tablette Sorbitol enthält.
  • Kindern unter 18 Jahren. Es liegen keine Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit bei pädiatrischer MS vor.

Dosierung

Cladribin wird als Tablette(n) in einer Gesamtdosis von 3,5 mg/kg Körpergewicht in insgesamt vier Behandlungszyklen oral verabreicht. Ein Behandlungszyklus umfasst eine oder zwei Tabletten pro Tag über vier oder fünf Tage. Dabei muss eine Dosisanpassung nach Gewicht vorgenommen werden.

Folgendes Dosierungsschema von Cladribin wurde von der EMA zur Behandlung der Multiplen Sklerose zugelassen: Im ersten Jahr der Behandlung erfolgt die orale Gabe von Cladribin in einer Dosierung von 1,75 mg/kg KG. Im zweiten Jahr wiederholt sich die orale Gabe von Cladribin in einer Dosierung von 1,75 mg/kg KG.

Die initiale Behandlung erfolgt in zwei Behandlungszyklen im Abstand von vier Wochen. Im Verlauf werden zwei weitere Behandlungszyklen 52 und 56 Wochen nach dem ersten Behandlungszyklus der initialen Behandlung verabreicht.

Jahr 1Jahr 2Total
Dosis ( in mg/kg KG)1,751,753,5
Behandlungszyklus1234
Behandlungswoche155357
  • Die Einnahme der unzerkauten Tablette(n) sollte an jedem Tag des Behandlungszyklus zur selben Tageszeit erfolgen. Die Einnahme kann unabhängig von Mahlzeiten stattfinden. Es wird ein Abstand von drei Stunden zu anderen oralen Arzneimitteln empfohlen, da das in Cladribin-Tabletten enthaltene Hydroxypropylbetadex möglicherweise mit anderen Wirkstoffen Komplexe eingehen kann.
  • Die zu verabreichende Menge Cladribin wird auf Basis des Körpergewichts errechnet. Für eine einfache und schnelle Ermittlung hält die Herstellerfirma Tabellen bereit. Es werden jeweils eine oder zwei Tabletten pro Tag eingenommen. Bei zwei Tabletten sind beide zusammen als Einzeldosis einzunehmen. Die Höchstdosis über zwei Jahre beträgt 40 Tabletten à 10 mg.
KörpergewichtBehandlungszyklus
123 4
40 bis < 50 kg4444
50 bis < 60 kg5555
60 bis < 70 kg6666
70 bis < 80 kg7777
80 bis < 90 kg8787
90 bis < 100 kg9898
100 bis < 110 kg109109
>= 110 kg10101010
Anzahl der 10 mg Tabletten pro Behandlungszyklus
Gesamtzahl der Tabletten
pro Woche
Behandlungstag
12345
4 insgesamt11110
5 insgesamt11111
6 insgesamt21111
7 insgesamt22111
8 insgesamt22211
9 insgesamt22221
10 insgesamt22222
Anzahl der Tabletten pro Behandlungstag

Pharmakokinetik

  • Cladribin wird innerhalb von zwei bis drei Stunden nach oraler Verabreichung resorbiert.
  • Der maximale Plasmaspiegel von 29 mg/ml wird nach 0,5 – 1,8 Stunden erreicht.
  • Die orale Bioverfügbarkeit von Cladribin liegt bei ungefähr 40%.
  • Cladribin wird teils unverändert über die Niere ausgeschieden.
  • Cladribin wird zudem teils intrazellulär und zu einem kleineren Anteil auch hepatisch metabolisiert.
  • Die terminale Eliminationshalbwertszeit beträgt 20 Stunden.
  • Während und eine Woche nach der Cladribin-Therapie ist das Stillen kontraindiziert. Wegen der kurzen Halbwertszeit kann ab einer Woche nach der letzten Gabe mit dem Stillen begonnen werden. Jedoch liegen kaum Daten zum Transfer in die Muttermilch („relative infant dose“ [RID] 3,06 %) und keine Daten zur Kindesentwicklung vor.

Pharmakodynamik

  • Cladribin ist ein chloriertes Purin-Nukleosid-Analogon des Desoxyadenosins. Intrazellulär erfolgt die Phosphorylierung zum aktiven Triphosphat vornehmlich in den Lymphozyten, da diese im Vergleich zu anderen Zelltypen hohe Spiegel von Desoxycytidinkinase und verhältnismäßig geringe Spiegel von 5‘-Nukleotidase aufweisen. Dadurch kommt es zu einer selektiven Reduktion von sich teilenden und nicht teilenden T- und B-Zellen.
  • Der primäre Apoptose-induzierende Wirkmechanismus der aktiven Triphosphat- Form von Cladribin beruht auf direkten und indirekten Auswirkungen auf die DNA-Synthese und die Mitochondrienfunktion.
  • In sich teilenden Zellen greift Cladribin in die DNA-Synthese ein, indem es die Ribonukleotidreduktase hemmt und mit Desoxyadenosin-Triphosphat um den Einbau in die DNA konkurriert.
  • In ruhenden Zellen führt Cladribin zu DNA-Einzelstrangbrüchen, raschem Verbrauch von Nikotinamid-Adenin-Dinukleotiden, ATP-Mangel und Zelltod. Es liegen zudem Hinweise vor, dass Cladribin auch direkt zu Apoptose führen kann, indem Cytochrom C und Apoptose-induzierender Faktor in das Zytosol von sich nicht teilenden Zellen ausgeschüttet werden.

Diagnostik || vor Therapiebeginn

Anamnese und klinische Untersuchung zu möglichen Kontraindikationen

  • Durch eine sorgfältige Anamnese und klinische Untersuchung sollte gezielt vor jedem Cladribin-Behandlungszyklus nach dem Vorliegen möglicher Kontraindikationen (z.B. Infektion, B-Symptomatik wie Fieber, Gewichtsabnahme, Nachtschweiß als Hinweis für hämatologisch-onkologische Erkrankungen) gesucht werden (obligat). Bei Patienten mit aktiver Infektion sollte der Behandlungszyklus mit Cladribin verschoben werden, bis die Infektion vollständig kontrolliert ist. Anamnese und Untersuchung sollten detailliert dokumentiert werden (obligat).

Labor-Basisprogramm

  • Routinelaborparameter: Die Bestimmung von Blutbild plus Differenzialblutbild, Leberwerten (GOT, GPT, GGT, Bilirubin) und Nierenwerten (Kreatinin) ist obligat.
  • Entzündungs- und Infektionsparameter: Vor jedem Behandlungszyklus muss eine akute Entzündung (CRP, BSG, Urinstatus) ausgeschlossen werden (obligat). Zudem sollten in Jahr 1 (obligat) und in Jahr 2 (fakultativ) vor Beginn der Therapie mit Cladribin chronische aktive bakterielle und virale Infektionen (HBV, HCV, HIV) ausgeschlossen werden. Zur Durchführung der HIV-Serologie ist eine Einverständniserklärung des Patienten erforderlich (obligat). Wegen des Risikos einer Reaktivierung sollte die Tbc-spezifische Immunreaktion untersucht werden (mittels Tbc-spezifischem ELISPOT oder Interferon-Release-Test, z.B. Quantiferon®) (obligat). Bei positivem Testergebnis muss die Gefahr einer Tbc-Reaktivierung abgeklärt werden (Röntgen-Thorax und ggf. weitere Diagnostik) (obligat). Die Durchführung einer VZV-Serologie ist obligat. Bei VZV-seronegativen Patienten sollte vor der geplanten Therapie eine Impfung gegen VZV durchgeführt werden (Lebendimpfstoff) (obligat). Die Behandlung mit Cladribin sollte erst bei ausreichendem anti-VZV Antikörpertiter begonnen werden, in der Regel vier bis sechs Wochen nach der Impfung.
  • Schwangerschaftstest: Bei Patientinnen im gebärfähigen Alter muss ein negativer Schwangerschaftstest vor jedem Therapiezyklus vorliegen (obligat).

Impfungen

  • Umfassende Untersuchungen zu Impfungen und Cladribin liegen nicht vor. Aufgrund der Abnahme der zirkulierenden B-Zellen und T-Zellen in den Monaten nach den Behandlungszyklen kann eine Beeinträchtigung des Impferfolgs nicht ausgeschlossen werden. Insofern sollten alle von der STIKO für Patienten unter Immunsuppression empfohlenen Impfungen vor Therapiebeginn durchgeführt bzw. aufgefrischt werden. Ggf. ist der Impferfolg mittels Titerkontrolle zu überprüfen (fakultativ).
  • Die Anwendung von attenuierten Lebendimpfstoffen ist unter der Therapie mit Cladribin streng zu stellen (fakultativ). Wenn möglich, sollte die Normalisierung der Leukozyten / Lymphozyten abgewartet werden.
  • Die Behandlung mit Cladribin kann frühestens vier bis sechs Wochen nach Durchführung der Anwendung eines Lebendimpfstoffs begonnen werden (obligat).

Radiologische Diagnostik

  • Eine Ausgangs-MRT des Schädels mit Kontrastmittel (nicht älter als drei Monate), das gemäß publizierten Standards durchzuführen und zu befunden ist, muss vor Behandlungsbeginn mit Cladribin für eine korrekte Indikationsstellung und als Ausgangsbefund für eine mögliche Krankheitsprogression oder unvorhergesehene Nebenwirkungen vorliegen (obligat).

Verschiedene Publikationen beschreiben Ablagerungen bzw. Signalveränderungen in speziellen Hirnarealen nach mehrmaligen Kontrastmittelgaben. Ein Krankheitsbild oder Symptome sind auf diese jedoch bislang nicht zurückzuführen. Das KKNMS empfiehlt, bei der Diagnosestellung weiterhin gadoliniumhaltige Kontrastmittel einzusetzen, um die Diagnose nicht zu verzögern und eine aussagekräftige, standardisierte Ausgangs-MRT zu erzielen. Im Krankheitsverlauf kann dann auf die Kontrastmittelgabe verzichtet werden, solange kein klinischer Anhaltspunkt für einen Krankheitsprogress vorliegt und wenn leitliniengerechte MRT-Kontrollen unter Therapie und standardisierter Repositionierung routinemäßig durchgeführt werden.

  • Vor Beginn der Cladribin-Therapie kann ein aktuelles Röntgenbild der Lunge (nicht älter als sechs Monate) zur Beurteilung einer möglicherweise vorliegenden chronischen Infektion (z.B. Tbc) mit herangezogen werden. Für Patienten mit entsprechender Anamnese sollte ein Röntgen-Thorax durchgeführt werden (obligat).

Dokumentierte Aufklärung der Patienten über Therapie und Risiken

  • Eine standardisierte Aufklärung über die Risiken und Nutzen der Cladribin-Therapie mit schriftlicher Einwilligungserklärung des Patienten sind vor Behandlungsbeginn obligat.
  • Über zytostatikatypische Nebenwirkungen (Lymphopenien [sehr häufig], Verminderung der Neutrophilenzahl [häufig], Alopezie [häufig], Herpes zoster [häufig], reaktivierter Tuberkulose [sehr selten] und Leberschädigung [gelegentlich]) und Vorsichtsmaßnahmen (sichere Empfängnisverhütung mit Pearl-Index unter 1) muss aufgeklärt werden.

Insbesondere muss auf folgende Aspekte eingegangen werden:

  • Lymphopenie: Cladribin senkt die Anzahl der Lymphozyten im peripheren Blut. In den Zulassungsstudien entwickelten bis 24,9% der behandelten Patienten eine Lymphopenie Grad 3 (< 500 – 200 Lymphozyten/μl). Eine Lymphopenie von Grad 4 (< 200 Lymphozyten/μl) war bei 0,7% der Patienten zu beobachten. Bei den meisten Patienten mit einer Lymphopenie Grad 3 oder 4 trat diese zwei Monate nach der ersten Cladribin-Dosis im jeweiligen Jahr auf. Bei älteren Patienten tritt unter Cladribin häufiger eine Lymphopenie auf. Bei langdauernden Lymphopenien ist von einem erhöhten Risiko für opportunistische Infektionen auszugehen. In Einzelfällen traten auch Leukopenien und Neutropenien auf.
  • Therapieassoziierte Neoplasien: In den randomisierten klinischen Studien wurden bei Patienten, die mit Cladribin 3,5 mg/kg Körpergewicht behandelt wurden, numerisch häufiger maligne Erkrankungen beobachtet als bei Patienten, die Placebo erhielten. Dieser Unterschied war allerdings nicht statistisch signifikant, und könnte auf einer ungewöhnlich niedrigen Neoplasierate in der Placebo-Gruppe beruhen. In einer integrierten Analyse des gesamten MS-Studienprogramms (CLARITY, CLARITY-EXT, ORACLE-MS und PREMIERE) fand sich gegenüber einer gematchten Referenzpopulation keine erhöhte Neoplasierate für Cladribin-behandelte Patienten (Leist et al. 2021).
  • Erhöhte Infektionsneigung insbesondere in den ersten Monaten nach einem Cladribin-Behandlungszyklus.
  • Bei parenteraler Gabe von Cladribin bei Patienten mit Haarzellleukämie wurden Fälle einer PML berichtet (Rote-Hand-Brief Cladribin [Litak®, Leustatin®] 2017). Bislang ist noch kein Fall bei MS-Patienten bekannt, so dass das Risiko nicht abzuschätzen ist.
  • Cladribin ist eine irreversible Therapieentscheidung für mindestens sechs Monate.
  • Interaktionspotential von Cladribin mit anderen Medikamenten, insbesondere mit starken Inhibitoren von ENT1-, CNT3- und BCRPTransportern (z.B. Calcium-Antagonisten) und systemisch wirkenden hormonellen Kontrazeptiva.

Vortherapien || Abstand und Maßnahmen

Behandlungsnaive Patienten

Behandlungsnaive Patienten

Es ist keine weitere Zusatzdiagnostik über die o.g. Maßnahmen hinaus nötig.

Glatirameracetat oder Interferon-beta

Vorbehandlung mit Glatirameracetat oder Interferon-beta

Eventuelle Effekte jener Therapien auf das Blutbild (z.B. Lymphopenie, Leukopenie, Thrombopenie) und / oder auf die Leber- / Nierenwerte sollten abgeklungen sein. Es ist keine weitere Zusatzdiagnostik über die o.g. Maßnahmen hinaus und in der Regel kein Sicherheitsabstand nötig.

Dimethylfumarat/Diroximelfumarat

Vorbehandlung mit Dimethylfumarat/Diroximelfumarat

Ein genereller Sicherheitsabstand ist nicht notwendig, jedoch muss eine Normalisierung des Differenzialblutbilds nach letzter Gabe abgewartet werden (obligat). Eventuelle weitere Effekte auf das Blutbild (z.B. schwere Lymphopenie) sowie auf die Leber- / Nierenwerte sollten abgeklungen sein.

Teriflunomid

Vorbehandlung mit Teriflunomid

Wegen der langen Eliminationshalbwertszeit von 19 Tagen ist ein Auswaschen des Teriflunomid vor Umstellung notwendig (obligat). Es sollte nach der Auswaschprozedur dokumentiert sein, dass Teriflunomid im Blut nicht mehr nachweisbar ist (obligat). Eventuelle Effekte des Teriflunomid auf das Immunsystem (z. B. Zytopenie) und/oder die Leberwerte sollten abgeklungen sein. Daraus ergibt sich ein Sicherheitsabstand von etwa vier Wochen.

Fingolimod, Siponimod, Ozanimod oder Ponesimod

Vorbehandlung mit Fingolimod, Siponimod, Ozanimod oder Ponesimod

Bei Umstellung von S1P-Rezeptor-Modulatoren auf Cladribin muss vor Beginn der Therapie ein Sicherheitsabstand eingehalten werden, der sich nach der Eliminationshalbwertszeit der einzelnen Substanzen (bzw. ihrer bioaktiven Metaboliten) bemisst. Ein Sicherheitsabstand von mindestens vier Wochen nach Absetzen des S1P-Rezeptor-Modulators wird für Fingolimod und Ozanimod empfohlen, während dieser Abstand bei Siponimod und Ponesimod kürzer sein kann (ein bis zwei Wochen). Pharmakodynamische Wirkungen (Senkung der Lymphozyten im peripheren Blut) können aber nachhinken. Daher ist zum Ausschluss einer relevanten Lymphopenie ein Blutbild plus Differenzialblutbild durchzuführen (obligat). Eventuelle weitere Effekte auf das Blutbild sowie auf andere Laborveränderungen oder die Vitalwerte sollten abgeklungen sein.

Beim Absetzen von Fingolimod ist zu beachten, dass es bei ca. 10% der mit Fingolimod behandelten Patienten zu einem Rebound-Phänomen mit zum Teil fulminant verlaufenden Schüben kommen kann. In der Regel tritt das Rebound-Phänomen zwei bis vier Monate nach Absetzen von Fingolimod auf. Patienten mit hochaktiver Verlaufsform ihrer MS vor Beginn mit Fingolimod, aber auch Patienten mit unzureichendem Ansprechen auf Fingolimod scheinen eher zu einem Rebound zu neigen.

Natalizumab oder Natalizumab-Biosimilar

Vorbehandlung mit Natalizumab oder Natalizumab-Biosimilar

Es wird empfohlen, einen Sicherheitsabstand von mindestens sechs bis acht Wochen einzuhalten. Eventuelle Effekte auf das Immunsystem (z.B. Lymphozytose, Zytopenie) sollten abgeklungen sein. Bei allen Patienten muss eine PML soweit möglich ausgeschlossen werden (MRT inklusive hoch-sensitiver FLAIR-Sequenz unmittelbar vor Therapiebeginn). Bei Patienten mit positivem JCV-Antikörper-Status und einer Therapiedauer von >20 Monaten sollte vorher eine Liquoruntersuchung einschließlich JCV-PCR erfolgen, um eine PML auszuschließen.

Untersuchungen an 1.866 Patienten, bei denen Natalizumab wegen der ersten PML-Fälle im Jahr 2005 abgesetzt wurde, haben gezeigt, dass meist die Krankheitsaktivität wieder auftritt wie vor Beginn der Therapie. Weitere Untersuchungen inkl. einer Metaanalyse haben gezeigt, dass bei einigen Betroffenen die Schubaktivität vorübergehend sogar stärker ausgeprägt sein kann als zuvor (= Rebound-Phänomen). Durch den plötzlichen Wegfall der Hemmung durch Natalizumab kommt es zu einem verstärkten und raschen Einstrom von Entzündungszellen ins Nervensystem. Dies kann bereits vier Wochen nach Absetzen bis hin zu sechs Monaten danach auftreten.

Mitoxantron

Vorbehandlung mit Mitoxantron

Es wird empfohlen, einen Sicherheitsabstand von mindestens drei Monaten einzuhalten. Eventuelle Effekte auf das Immunsystem (z.B. Zytopenie) bzw. die Leberfunktion sollten abgeklungen sein. Im Weiteren sollte eine Echokardiographie durchgeführt werden (sofern die letzte Untersuchung drei Monate oder länger zurückliegt), bevor die Therapie mit Cladribin begonnen wird. Bei dieser Therapiesequenz sollte das Risiko der kumulativen Immunsuppression mit Potenzierung der Langzeitrisiken für maligne Erkrankungen berücksichtigt werden. Unter der Therapie mit Cladribin sollte man die klinische Aufmerksamkeit für die mögliche späte Manifestation einer akuten myeloischen Leukämie nach Mitoxantron aufrecht erhalten, und die Laborkontrollen sollten auch in dieser Hinsicht durchgesehen werden (Differenzialblutbild) (obligat).

Azathioprin, Methotrexat, Ciclosporin A oder Cyclophosphamid

Vorbehandlung mit Azathioprin, Methotrexat, Ciclosporin A oder Cyclophosphamid

Es wird empfohlen, einen Sicherheitsabstand von mindestens drei Monaten einzuhalten. Eventuelle Effekte jener Therapien auf das Immunsystem (z.B. Zytopenie) sowie Differenzialblutbild bzw. Leber- / Nierenfunktion und kardiovaskuläre Funktion sollten abgeklungen bzw. als klinisch irrelevant eingestuft worden sein (obligat). Aufgrund unterschiedlicher Wirkungs- und Nebenwirkungsprofile sollte mit einem in der MS-Therapie erfahrenen Zentrum Rücksprache gehalten werden.

Alemtuzumab

Vorbehandlung mit Alemtuzumab

Es wird empfohlen, nach der letzten Infusion einen Sicherheitsabstand von mindestens sechs bis zwölf Monaten einzuhalten. Eventuelle Effekte, z.B. auf das Immunsystem (Zytopenie), sollten abgeklungen sein. Vor Beginn der Behandlung wird empfohlen, einen kompletten Immunstatus einschließlich Lymphozytentypisierung (CD4+-T-Zellen, CD8+-T-Zellen, B-Zellen und NK-Zellen) zu erheben (fakultativ). Während der Behandlung mit Cladribin muss das über vier Jahre nach der letzten Alemtuzumab-Infusion vorgeschriebene klinische und labordiagnostische Monitoring (einschließlich Thrombozyten, Kreatinin, Urinsediment) eingehalten werden (obligat).

Ocrelizumab, Ofatumumab oder Rituximab

Vorbehandlung mit Ocrelizumab, Ofatumumab oder Rituximab

Es wird empfohlen, nach der letzten Infusion einen Sicherheitsabstand von mindestens sechs bis zwölf Monaten einzuhalten. Vor Beginn der Behandlung mit Cladribin muss ein Differenzialblutbild erhoben werden (obligat), ggf. auch eine Lymphozytentypisierung (CD19+-B-Zellen) (fakultativ). Effekte jener Therapie auf das Immunsystem (z.B. Zytopenie) sollten abgeklungen sein.

Studienmedikamente

Vorbehandlung mit Studienmedikamenten

Es wird empfohlen, einen Sicherheitsabstand einzuhalten, der mindestens fünf Plasmahalbwertszeiten des Studienmedikaments entspricht bzw. bis pharmakodynamische Effekte des Studienmedikaments abgeklungen sind. Dies sollte anhand objektiver, für das Studienmedikament bekannter Maße dokumentiert werden, z.B. Zytopenie, Leberwerterhöhungen, einschlägige Vitalparameter (obligat). Es sollte eine Rücksprache mit dem MS-Zentrum erfolgen, welches den Patienten während der Studie betreut hat.

Monitoring & Maßnahmen

Klinisch-neurologische Kontrolle

Vierteljährliche klinisch-neurologische Kontrolluntersuchungen durch MS-erfahrene Ärzte sind empfohlen (fakultativ). Vor jedem Cladribin-Behandlungszyklus sollte anamnestisch und in der klinischen Untersuchung nach dem Vorliegen möglicher Kontraindikationen gesucht werden. Anamnese und Untersuchung sollten detailliert dokumentiert werden (obligat).

Labor-Basisprogramm

  • Routinelaborparameter: Blutbild plus Differenzialblutbild müssen vor jedem Behandlungszyklus mit Cladribin kontrolliert werden (obligat). Zudem kann auch eine Lymphozytentypisierung (CD4+-T-Zellen, CD8+-T-Zellen, B-Zellen und NK-Zellen) durchgeführt werden (fakultativ). Anschließend sollen die Kontrollen alle zwei bis drei Monate erfolgen, wobei der Lymphozytennadir in der Regel nach ungefähr zwei Monaten erreicht wird (obligat). Bei Lymphozytenwerten unter 800/μl oder bei Leukozytenwerten unter 3000/μl ist ein Aussetzen der Medikation im zweiten Behandlungsjahr angezeigt (obligat). Danach sollten Kontrolluntersuchungen bis zur Normalisierung des Blutbildes erfolgen. Dauert die Normalisierung vor der Gabe im zweiten Jahr länger als sechs Monate, sollte Cladribin nicht weitergegeben werden. Patienten mit Lymphozytenwerten unter 500/μl sind aktiv hinsichtlich Anzeichen und Symptomen von Infektionen, insbesondere Herpes zoster, zu überwachen. Ebenso sollte in monatlichen Kontrollen das Differenzialblutbild nachkontrolliert werden. Sinkt die Lymphozytenzahl unter 200/μl, sollte eine Herpesprophylaxe mit 2x täglich 200 mg Aciclovir (oral) erwogen werden (fakulativ) und ein Differentialblutbild in zweiwöchentlichen Abständen durchgeführt werden (obligat).
  • Die Leberwerte (GOT, GPT, GGT) und Nierenwerte (Kreatinin) müssen vor jedem Behandlungszyklus mit Cladribin und anschließend im Intervall von zwei bis drei Monaten über den gesamten Behandlungszeitraum von zwei Jahren kontrolliert werden (obligat).
  • Entzündungs- und Infektionsparameter: Ein Infekt muss klinisch und laborchemisch vor jedem Cladribin-Behandlungszyklus ausgeschlossen werden (CRP, Urinstatus) (obligat). Falls Anzeichen einer klinisch relevanten Infektion unter Cladribin-Therapie auftreten, ist eine anti-infektiöse Therapie einzuleiten. Die Gabe von Cladribin sollte unterbrochen oder verschoben werden, bis die Infektion vollständig ausgeheilt ist.
  • Schwangerschaftstest: Bei Patientinnen im gebärfähigen Alter muss vor jedem Cladribin-Behandlungszyklus ein Schwangerschaftstest durchgeführt werden (obligat).

Radiologische Kontrolle

Zur Beurteilung des Behandlungserfolgs sowie zur möglichen Einschätzung differentialdiagnostisch relevanter Komplikationen der Therapie sollte einmal jährlich eine MRT des Schädels durchgeführt werden (fakultativ). Abhängig vom klinischen Verlauf kann eine MRT des Rückenmarks sinnvoll sein. Auf die Kontrastmittelgabe sollte verzichtet werden, wenn es keinen klinischen Anhaltspunkt für einen Krankheitsprogress gibt und die Verlaufs-MRT standardisiert zur Ausgangs-MRT durchgeführt wurde, um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten.

Krebsvorsorgeuntersuchungen

Da Cladribin zumindest eine phasenweise immunsuppressive Wirkung entfalten kann, sollten die Patienten angewiesen werden, die Standardleitlinien für Krebsvorsorgeuntersuchungen zu beachten und die darin empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen (obligat). Zudem sollten Blutbildkontrollen nach der letzten Cladribin-Gabe über mindestens zwei Jahre erfolgen (fakultativ).

Während der Therapie

Schübe, die unter Cladribin auftreten, können nach Standardvorgaben mit einer Methylprednisolon-Pulstherapie behandelt werden.

Ebenfalls möglich ist die Eskalationstherapie des MS-Schubs mittels Plasmapherese oder Immunadsorption.

Eine Kombination von Cladribin mit anderen Immuntherapeutika ist außerhalb von entsprechenden Studien nicht indiziert. Eine Kombination mit Interferon-beta führt zu einem erhöhten Lymphopenie-Risiko. Die Gabe von anderen Immuntherapeutika kann frühestens 6 Monate nach der letzten Cladribin-Gabe sowie nach Remission therapiespezifischer Effekte erfolgen.

Besondere Hinweise

Schwangerschaft und Stillzeit

  • Cladribin ist während der Schwangerschaft / Stillzeit streng kontraindiziert. Frauen im gebärfähigen Alter müssen den Eintritt einer Schwangerschaft während der Behandlung und mindestens sechs Monate nach der letzten Dosis durch Anwendung einer zuverlässigen Verhütungsmethode verhindern (Pearl-Index unter 1) (obligat). Geeignet sind beispielsweise systemisch wirkende hormonelle Kontrazeptiva bei der Patientin in Kombination mit einer Barrieremethode wie Kondomen oder Portiokappe.
  • Cladribin sollte mindestens sechs Monate vor einer gewünschten Konzeption abgesetzt werden, um eine Cladribin-Exposition während der vorangehenden Phase der Follikelreifung zu vermeiden.
  • Eine unerwartete Schwangerschaft unter Cladribin-Einnahme und 6 Monate danach ist keine zwingende Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch. Weitere Gaben von Cladribin sollten in diesem Fall aber sofort ausgesetzt werden (obligat).
  • Auch Männer, die mit Cladribin behandelt werden, dürfen während der Behandlung und bis zu sechs Monate danach kein Kind zeugen. Hierfür muss in diesem Zeitraum eine zuverlässige Verhütungsmethode angewandt werden (Pearl-Index unter 1) (obligat). Geeignet sind beispielsweise systemisch wirkende hormonelle Kontrazeptiva bei der Partnerin in Kombination mit einer Barrieremethode wie Kondomen oder Portiokappe.
  • Sollte eine Schwangerschaft unter Cladribin aufgetreten sein (sowohl bei der Einnahme durch den Mann, als auch durch die Frau) ist eine genetische Beratung zu erwägen. Eine intensivierte Ultraschalldiagnostik ist zu veranlassen.
  • Da Cladribin nach neueren Erkenntnissen zu einem kleinen Anteil in die Muttermilch übergeht, ist das Stillen frühestens eine Woche nach der letzten Einnahme von Cladribin wieder möglich.

Impfungen

Die Wirksamkeit von Impfungen kann während und nach der Cladribin-Therapie eingeschränkt sein. Ggf. ist der Impferfolg mittels Titerkontrolle zu überprüfen (fakultativ).

Die Anwendung von attenuierten Lebendimpfstoffen ist unter der Therapie mit Cladribin streng zu stellen (fakultativ). Wenn möglich, sollte die Normalisierung der Leukozyten / Lymphozyten abgewartet werden.

Umgang mit Covid-19 Erkrankung und Impfung:

Die Datenlage zu einer laufenden Therapie mit Cladribin und einem möglicherweise schwereren Krankheitsverlauf im Rahmen einer COVID-19 Infektion ist aktuell nicht eindeutig. Aufgrund der Lymphozytendepletion wird jedoch empfohlen, bei Vorliegen einer COVID-19 Infektion die Cladribin-Gabe zu verschieben. Eine Testung vor regulärer Gabe kann sinnvoll sein.

Eine COVID-19 Impfung sollte, wenn möglich, spätestens 4 – 6 Wochen vor Beginn der Cladribin-Therapie durchgeführt werden. Eine Impfung unter laufender Therapie mit Cladribin ist grundsätzlich möglich, dann sollte hierfür ein Zeitpunkt mindestens 3 Monate nach letzter Cladribin-Gabe und nicht kürzer als 4 – 6 Wochen vor nächster Gabe gewählt werden. Eine Kontrolle des Impferfolges kann sinnvoll sein.

Detaillierte Empfehlungen zu Impfungen unter MS-Therapien siehe Spezialsituationen.

Seit 2018 ist ein Totimpfstoff gegen VZV (Shingrix®) zur Verhinderung von Herpes-zoster-Infektionen zugelassen. Die STIKO empfiehlt diese Impfung bei allen Personen > 60 Jahren. Bei Personen mit einer Grundkrankheit oder Immunschwäche (wie z.B. durch eine MS-Immuntherapie) empfiehlt die Kommission die Impfung bereits ab einem Alter von 50 Jahren (Indikationsimpfung). Da Zoster bei der Anwendung von Immuntherapien ein häufigeres Problem darstellen kann, kann individuell überlegt werden, den Impfstoff vor Anwendung einer Immuntherapie einzusetzen (off-label).

Infektionen

Bei akuten Infektionen unter Cladribin sind unverzüglich Maßnahmen zur Diagnostik und Therapie einzuleiten. Sollte es Anzeichen einer Immunkompromittierung geben (z.B. Häufung von Infektionen, Aktivierung latenter Viren, opportunistische Infektionen), sollten weitere Behandlungszyklen von Cladribin ausgesetzt werden (obligat).

Dauer der Therapie

Ausreichende Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit von Cladribin liegen bisher nur für vier Behandlungszyklen über einen Zeitraum von insgesamt zwei Jahren vor. Die Indikation der Therapiefortführung nach dem ersten Behandlungsjahr sollte im Rahmen von regelmäßigen klinischen und paraklinischen Untersuchungen sorgfältig überprüft werden. Dabei ist selbstverständlich die Verträglichkeit zu berücksichtigen und eine rigorose Nutzen-Risiko-Abwägung vorzunehmen.

Eine kontinuierliche Therapiefortführung nach zwei Jahren, d.h. mehr als insgesamt vier Zyklen innerhalb von 4 Jahren, wird derzeit unter Berücksichtigung der verfügbaren Sicherheitsdaten zur Langzeittherapie (CLARITY, CLARITY EXTENSION und PREMIERE Register) nicht empfohlen. Für Patienten, die mit einem langfristigen Behandlungserfolg auf Cladribin ansprechen, kann im Falle einer erneuten Krankheitsaktivität die Behandlung ab Jahr 5 mit einem neuen Therapieabschnitt (also z.B. vier Zyklen innerhalb von 4 Jahren) fortgesetzt werden (Oreja-Guevara, MSARD, 2023).

Der Anteil an Malignität oder Infektionen bei Patienten, die während der klinischen Studien zusätzliche Behandlungen mit Cladribin erhalten haben, war nicht erhöht. Auch die Sicherheit von zwei zusätzlichen Cladribin Gaben wurde in einer klinischen Phase-III-Studie (CLARITY EXTENSION) getestet und bestätigt. Allerdings fehlen weiterhin Real-World Daten zu den Risiken sowie langfristige Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit zusätzlicher Cladribin Behandlungen.

Autoren

  • Prof. Dr. Felix Lüssi

    Klinik für Neurologie, Universitätsmedizin Mainz

  • Dr. Sinah Engel

    Klinik für Neurologie, Universitätsmedizin Mainz

Weitere Informationen unter „Credits“.

Patientenaufklärung

Das KKNMS stellt einen Patientenaufklärungsbogen zur Therapie mit Cladribin für Sie bereit.

Patientenaufklärungsbogen zur Therapie mit Cladribin (PDF)

WORKFLOW-TABELLE

VOR der Therapie
WÄHREND der Therapie
Erläuterung

Autoren

Prof. Dr. Felix Lüssi

Klinik für Neurologie, Universitätsmedizin Mainz

Dr. Sinah Engel

Klinik für Neurologie, Universitätsmedizin Mainz