MS

Schubtherapie

Indikation

Glukokortikosteroide (GKS) werden in der MS-Therapie zur Behandlung akuter Schübe eingesetzt.

Idealerweise sollte eine Schubtherapie eine möglichst komplette Rückbildung des entstandenen neurologischen Defizits bewirken und damit die langfristige Prognose der Erkrankung hinsichtlich des bleibenden neurologischen Defizits positiv beeinflussen. In der Therapie des akuten MS-Schubs sind hochdosierte Glukokortikosteroide als Pulstherapie allgemein anerkanntes Mittel der ersten Wahl. GKS führen zu einer schnelleren Symptomrückbildung. Eine Wirkung auf die generelle Schubrate, Erkrankungsaktivität und langfristige Prognose der Erkrankung ist dagegen nicht sicher belegt.

Unter einem Schub ist ein neu auftretendes neurologisches Defizit zu verstehen, das durch eine MS-bedingte frische entzündliche Läsion im ZNS verursacht wird.

Da eine objektive Darstellung dieser neuen entzündlichen Läsion mit der MRT nicht immer gelingen kann, beruht die Diagnose eines MS-Schubs und die Indikation zur Schubtherapie überwiegend auf klinischen Kriterien. Je nach betroffenem neurologischem System sind die berichteten Defizite unterschiedlich gut objektivierbar, unterliegen Schwankungen in der subjektiven Wahrnehmung durch den Betroffenen und können auch durch physikalische Einflüsse auf die Nervenleitfunktion vorgetäuscht werden (z.B. Uhthoff-Phänomen). Es gilt also, rein funktionelle oder subjektive, flüchtige Schwankungen neurologischer Funktionen („Pseudoschub“) von einer tatsächlichen entzündungsbedingten Funktionsstörung abzugrenzen.

Ein akuter Schub ist daher wie folgt zu definieren:

Ein vom Patienten berichtetes, neu aufgetretenes neurologisches Defizit in einem der Systeme Sehfunktion, Hirnstamm, Pyramidenbahn, Sensorium, Kleinhirn, Kognition oder Blasen- / Mastdarmfunktion …

… welches unabhängig von einer Erhöhung der Körpertemperatur oder dem Vorliegen eines fiebrigen Infekts aufgetreten ist und nicht durch eine anderweitige physische oder organische Ursache hervorgerufen sein kann und …

… seit mindestens 24 Stunden anhält. Auch paroxysmale Symptome, die über diesen Zeitraum wiederholt auftreten, erfüllen dieses Kriterium.

Bei Wiederauftreten eines zunächst in Besserung begriffenen oder abgeklungenen neurologischen Defizits innerhalb von 30 Tagen handelt es sich um einen reaktivierten Schub, bei Wiederauftreten nach 30 Tagen um einen erneuten Schub. Tritt innerhalb der 30 Tage ein neurologisches Defizit in einer neuen Lokalisation hinzu, spricht man von einem „Schubkomplex“.

Grundsätzlich qualifiziert jeder akute Schub eine GKS-Therapie, die möglichst umgehend eingeleitet werden sollte. Bei der Indikationsstellung sind jedoch weitere Faktoren zu berücksichtigen:

  • Schwere des Schubs: Auswirkung auf den Gesamt-EDSS oder Score der einzelnen funktionellen Systeme oder subjektiv behindernde Defizite (z.B. paroxysmale Symptome, Störung der Feinmotorik).
  • Abstand zum Symptombeginn: Bei einer Symptomdauer von mehr als vier bis fünf Wochen vor Einleitung einer ersten GKS-Therapie ist diese weniger aussichtsreich.
  • Verträglichkeit einer etwaigen früheren hochdosierten GKS-Therapie.
  • Komorbiditäten und relative Kontraindikationen.

Diese Faktoren fließen auch in die zu wählende Dauer und Dosierung der GKS-Therapie ein.

Bei alleinigem Nachweis entzündlicher Aktivität in der MRT (kontrastmittelaufnehmende Läsionen) ohne Nachweis eines klinischen Korrelats kann nach der derzeitigen Datenlage dagegen keine generelle Therapieempfehlung gegeben werden.

Der Ansatzpunkt einer GKS-Therapie ist ungeachtet der genannten Faktoren bei jedem Schub immer der gleiche. Nichtsdestotrotz sind die genannten Faktoren zur Nutzen-Risiko-Abwägung einer GKS-Therapie notwendig:

Bei erst kurzer Symptomdauer, guter Verträglichkeit der GKS und Fehlen relevanter Begleiterkrankungen oder Kontraindikationen ist die hochdosierte GKS-Therapie grundsätzlich indiziert. Bei weit zurückliegendem Symptombeginn und / oder bestehenden relativen Kontraindikationen kann es jedoch sinnvoll sein, eine GKS-Therapie zurückzustellen.

Bei schweren Schüben wird man dagegen auch bei relevanten Begleiterkrankungen die Behandlung immer frühzeitig anstreben und diese selbst dann noch beginnen, wenn die Symptomatik bereits seit längerer Zeit ohne Rückbildungstendenz anhält.

Kontraindikationen

Glukokortikosteroide sind kontraindiziert bei …

  • anaphylaktoiden Reaktionen gegen GKS bzw. allergischen Reaktionen gegen spezifische GKS-Präparate (Beistoffe).
  • florider erregerbedingter Pneumonie; Sepsis.
  • frischer tiefer Beinvenenthrombose oder Lungenembolie.

Eine relative Kontraindikation besteht bei …

  • Diabetes mellitus: engmaschigere BZ-Kontrollen und passagere Anpassung der Diabetes-Medikation (einschließlich vorübergehender Insulin-Therapie bei Typ-II-Diabetikern).
  • bekannten psychiatrischen Erkrankungen oder entsprechenden Symptomen in der Anamnese: strenge Indikationsstellung, ggf. Ko-Medikation oder Durchführung unter stationären Bedingungen.
  • (floridem) Ulkus des Gastrointestinaltrakts; floriden entzündlichen Darmerkrankungen oder Divertikulitis: sehr strenge Indikationsstellung, nur in Rücksprache mit behandelndem Internisten / Gastroenterologen.
  • deutlich erhöhten Leberwerten (3x des oberen Normwertes): strenge Indikation und Rücksprache mit Hepatologen erforderlich.
  • aktivem / symptomatischem Infekt: ggf. GKS-Therapie unter keimgerechter antibiotischer Abdeckung durchführen. Insbesondere bei Patienten aus Risikogruppen oder Endemiegebieten sollte vor Beginn der GKS-Therapie ein Röntgen-Thorax vorliegen (Gefahr der Reaktivierung einer Tuberkulose).
  • akuten Virusinfektionen (z.B. Herpes zoster / simplex, chronisch aktive Virushepatitis); systemischen Mykosen und Parasitosen: ggf. zusätzliche antiinfektiöse Therapie.
  • schwer einstellbarer arterieller Hypertonie; schwerer Herzinsuffizienz: in Rücksprache mit Kardiologen.
  • bekannten Herzrhythmusstörungen: Kontrolle des Serum-Kaliums besonders wichtig!
  • bekannter Hypothyreose, Leberzirrhose: ggf. GKS-Dosis reduzieren.
  • schwerer Osteoporose.
  • bereits unter GKS erlittenen schweren Komplikationen, z.B. Knochennekrosen.
  • Eng- und Weitwinkelglaukom.
  • Schwangerschaft: siehe Abschnitt „Besondere Hinweise“.

Dosierung

  • Als therapeutischer Standard gilt die intravenöse (i.v.) GKS-Hochdosistherapie über drei bis fünf Tage. Vorzugsweise wird Methylprednisolon (MP) i.v. in einer täglichen Dosierung von 1.000 mg/Tag gegeben; auch eine reduzierte Dosis von 500 mg/Tag ist möglich. Methylprednisolon i.v. ist für die Behandlung von MS-Schüben zugelassen.
  • Die Infusion sollte aufgrund der zirkadianen Rhythmik der körpereigenen Cortisolsekretion morgens in einer Einzeldosis als Kurzinfusion über 30 bis 60 Minuten gegeben werden.
  • Im Anschluss an die intravenöse Therapiephase ist, insbesondere bei Patienten mit noch nicht ausreichender Symptombesserung, eine oral ausschleichende MP-Gabe über zehn, maximal 14 Tage zu erwägen.

Beispiel: Beginn mit 100 mg MP oral, dann alle zwei Tage um 20 mg reduzieren.

Tag12345678910
mg1001008080606040402020
  • Wenn eine intravenöse GKS-Applikation nicht möglich ist, kommt eine orale MP-Hochdosistherapie in Betracht. Dabei handelt es sich um eine off-label Therapie.
  • Für eine intrathekale Gabe von GKS (Triamcinolonacetonid) zur Schubtherapie gibt es keine Evidenz.

Auch wenn belastbare Daten zur optimalen Dosis und Dauer der GKS-Hochdosistherapie fehlen, ist die intravenöse Behandlung mit 1.000 mg MP pro Tag über drei bis fünf Tage als etablierter Standard anzusehen. Bei leichten Schüben und / oder rascher Rückbildung ist eine Therapie über drei Tage häufig ausreichend. Bei ausbleibender Besserung ist die Ausweitung der i.v. Therapie über fünf Tage hinaus dagegen nicht sinnvoll. Eine reduzierte MP-Dosis (500 mg/Tag i.v.) kann bei Patienten erwogen werden, die bei früheren Behandlungen auf diese Dosis gut angesprochen haben oder unter starken GKS-Nebenwirkungen leiden. Auch die ausschleichende orale GKS-Behandlung ist nicht evidenzbasiert. Trotzdem ist insbesondere bei Patienten mit noch nicht ausreichender Symptombesserung nach erfolgter abgeschlossener intravenöser GKS-Therapie und guter Verträglichkeit eine orale Ausschleichphase für maximal zehn bis 14 Tage zu erwägen. Mehrere neuere Studien und eine Metaanalyse aus 2017 konnten zeigen, dass eine Hochdosistherapie mit äquivalenter oraler MP-Gabe über drei Tage einer intravenösen Gabe mit 3 x 1000 mg hinsichtlich Wirkung auf die Schubrückbildung und Nebenwirkungsprofil nicht unterlegen ist und somit eine Option darstellt. Hinsichtlich der Praktikabilität ist allerdings zu beachten, dass Methylprednisolon in Deutschland und Österreich nur in einer maximalen Dosierung von 40 mg/Tablette erhältlich ist, d.h. 25 Tabletten am Tag eingenommen werden müssen.

Pharmakokinetik

Grundsätzlich können die verschiedenen GKS anhand ihrer Wirkungsstärke, ihrer mineralokortikoiden Wirkung, ihrer unterschiedlichen Plasmahalbwertszeiten und ihrer Äquivalenzdosis unterschieden werden (siehe Tabelle). Bei Unverträglichkeit gegenüber Methylprednisolon (MP) kann auch eine Therapie mit Dexamethason, Prednison oder Prednisolon erfolgen.

SteroidPlasmahalbwertszeit
(min)
Relative glukokortikoide
Potenz
Mineralokortikoide
Potenz
Cushing-
Schwelle
(mg/die)
Cortisol901130
Prednison> 20040,67,5
Prednisolon> 20040,67,5
Methylprednisolon> 200506
Dexamethason> 3003001,5
  • GKS werden überwiegend in der Leber verstoffwechselt und danach biliär oder renal ausgeschieden.
  • Eine Dosisanpassung bei niereninsuffizienten Patienten ist nicht notwendig.
  • Es bestehen zahlreiche Wechselwirkungen mit gängigen Medikamenten, z.B. Ovulationshemmer (GKS-Wirkung verstärkt), Cumarine (Cumarin-Wirkung abgeschwächt), CYP3A4-Induktoren (z.B. Carbamazepin; GKS-Wirkung abgeschwächt), NSAR (Risiko für GI-Blutungen erhöht).
  • Die biologische HWZ von GKS ist um ein Vielfaches länger als die Plasma-HWZ, d.h. Wirkungen und Nebenwirkungen halten nach der letzten Gabe noch Tage an.

Pharmakodynamik

GKS haben vielfältige Wirkungen und beeinflussen den Stoffwechsel fast aller Gewebe. Dabei können nicht-genomische von genomischen Wirkmechanismen unterschieden werden:

  • Regulation der Genexpression vieler Gene (z.B. Hemmung inflammatorischer Gene) nach Bildung des Glucocorticoid / Cortisol-Rezeptor-Komplex intrazellulär
  • Hemmung und Apoptose von aktivierten B- und T-Lymphozyten
  • Hemmung der Synthese von pro-inflammatorischen Zytokinen
  • Membranstabilisierung (u.a. an der Blut-Hirnschranke)

Diagnostik || vor Therapiebeginn

Anamnese und klinische Untersuchung zu möglichen Kontraindikationen

Eine sorgfältige Anamnese und Untersuchung ist obligat, um Ausprägung und Schwere des Erkrankungsschubs zu dokumentieren sowie mögliche andere Ursachen für eine Verschlechterung der neurologischen Funktionen auszuschließen. Außerdem werden dabei mögliche Kontraindikationen (siehe unten) für eine hochdosierte GKS-Therapie festgestellt.

Labor-Basisprogramm

  • Routinelaborparameter: Vor Beginn der Therapie sind Blutbild mit Differenzialblutbild, Elektrolyte (Na+/K+), Blutzucker (ggf. HbA1c ) und Leberenzyme obligat zu bestimmen.
  • Entzündungs- und Infektionsparameter: Vor Beginn der Therapie müssen akute Entzündungen (Körpertemperatur, BSG und / oder CRP obligat; Urinstatus fakultativ) ausgeschlossen werden. Bei Hinweisen auf einen Infekt und / oder spezielle Begleiterkrankungen sind gezielte Labor- und technische Zusatzuntersuchungen bezüglich der Ursache obligat.

Hochdosierte GKS sollten bei Patienten mit Zeichen akuter und florider Infektionen (Fieber > 38,5 °C; Hinweise für akute erregerbedingte Infektionen wie z.B. deutliche Leukozytose bzw. BSG / CRP-Erhöhung) nicht gegeben werden.

  • Schwangerschaftstest: Ein Schwangerschaftstest ist zu empfehlen, sofern eine Schwangerschaft nicht anderweitig ausgeschlossen werden kann (fakultativ).

Radiologische Diagnostik

  • Vor Beginn der Schubtherapie muss bei pulmonaler Vorerkrankung (einschließlich, aber nicht ausschließlich, bei abgeheilter Tuberkulose), klinischen Hinweisen auf okkulte Infektionen oder Bestehen von Risikofaktoren (Herkunft des Patienten, Reiseanamnese, Exposition in Beruf und privatem Umfeld) ein aktuelles Röntgenbild der Lunge (nicht älter als sechs Monate) vorliegen (obligat).
  • Bei Lungengesunden ist vor erstmaliger GKS-Therapie die Anfertigung eines Röntgenbilds fakultativ. Vor Durchführung eines Röntgenbilds der Lunge muss eine Schwangerschaft ausgeschlossen worden sein (obligat).

Dokumentierte Aufklärung der Patienten über Therapie und Risiken

Eine dokumentierte mündliche Aufklärung über die Durchführung und möglichen Risiken einer hochdosierten GKS-Therapie ist obligat. Hierbei sollte insbesondere auf folgende Aspekte eingegangen werden:

  • Eine kurzfristige hochdosierte GKS-Therapie führt in der Regel nicht zu den bekannten Nebenwirkungen einer oralen Langzeit-GKS-Therapie (iatrogener Diabetes mellitus, Osteoporose, Muskelatrophie, Cushing-Symptomatik, Katarakt u.a.).
  • Eine sehr häufige Nebenwirkung ist die Leukozytose mit Lymphopenie / Linksverschiebung und die Polyglobulie. Aufgrund der Immunsuppression besteht grundsätzlich eine höhere Infektneigung. Begleitende Infekte können sich verstärken oder reaktiviert werden.
  • Häufige Nebenwirkungen sind: diabetogene Stoffwechsellage; Hypokaliämie; Veränderung der Stimmung (euphorisch oder depressiv); Schlafstörungen; Hitzewallungen; „Schwellungsgefühl“, v.a. im Gesicht, ohne äußerlich sichtbare Cushing-Symptome; gastrointestinale Beschwerden; metallischer Geschmack; erhöhte Leberenzyme.
  • Seltene Nebenwirkungen sind: Magen-Darm-Ulzera; gastrointestinale Blutungen; floride psychotische oder schwere depressive Reaktionen; Bradykardien (sehr selten: Herzrhythmusstörungen bis hin zum Kammerflimmern durch Hypokaliämie); hypertensive Entgleisungen; Glaukom-Anfall; aseptische Knochennekrosen (Hüftkopf, Humeruskopf); Sehnenrupturen; Venenthrombosen (sehr selten: Sinusvenenthrombosen und Thrombosen der inneren Hirnvenen); Muskelkrämpfe; Drug-induced liver injury (DILI; sehr selten mit Leberversagen); anaphylaktoide Reaktionen.

Monitoring & Maßnahmen || unter Therapie

Klinisch-neurologische Kontrolle

  • Die hochdosierte GKS-Therapie muss aufgrund möglicher Nebenwirkungen unter ärztlicher Kontrolle durchgeführt werden (obligat).
  • Jeder Hinweis auf akute psychiatrische Symptome unter Therapie muss zu einer umgehenden Evaluation und ggf. psychiatrischen Mitbehandlung führen.

Labor-Basisprogramm

  • Routinelaborparameter: Kontrollen der Elektrolyte und des Blutzuckers sind obligat, um sicherzustellen, dass eine behandlungsbedürftige Elektrolytentgleisung oder diabetogene Stoffwechsellage rechtzeitig erkannt wird.
  • Bei auffälligen Werten bei diesen Kontrollen und / oder bestehenden Vor- oder Begleiterkrankungen muss das Monitoring unter hochdosierter GKS-Therapie intensiviert werden (weitere / engmaschigere Laborkontrollen, EKG-, Blutdruck- und Pulskontrollen etc.). Eine Kontrolle der Leberenzyme nach Abschluss der Therapie ist zu empfehlen (fakultativ).

Bei den obligaten Kontrollen des Blutzuckers und der Elektrolyte kann insbesondere bei stationär begonnener Behandlung wie folgt verfahren werden: während des Zeitraums der intravenösen Gabe dreimalige Blutzucker-Bestimmung am ersten Tag (Blutzucker-Tagesprofil), danach bei nicht behandlungsbedürftigen Befunden einmal täglich (eine Stunde nach GKS-Infusion); Elektrolytkontrollen alle zwei Tage. In der oralen Ausschleichphase bei unkompliziertem Verlauf genügt eine einmalige Blutzucker- und Elektrolytkontrolle am fünften Tag. Der optimale Zeitpunkt für eine Kontrolle der Leberenzyme ist unklar, da eine GKS-bedingte Leberschädigung (DILI) mit sehr variabler Latenz auftreten kann. Eine rezente Analyse aller publizierten Fälle berichtet eine Spanne von 1 bis 10 Wochen mit einem Median von 4 Wochen.

  • Weitere Laborkontrollen sind von Auffälligkeiten im Ausgangslabor und klinischen Zeichen im Verlauf (z.B. sich entwickelndes Fieber) abhängig zu machen.
  • Der behandelnde Arzt muss insbesondere mit dem Management einer steroidinduzierten diabetogenen Stoffwechsellage vertraut sein.

Kardiologische Kontrolle

  • Bei bereits bekannter latenter oder manifester arterieller Hypertonie und Herzerkrankungen sind Blutdruck- und Herzfrequenzkontrollen obligat. Ggf. müssen Antihypertensiva angepasst werden (cave: Kaliumverlust durch Diuretika).

Durchführung und Monitoring der Behandlung

  • Die hochdosierte GKS-Therapie kann insbesondere im Wiederholungsfall ambulant erfolgen, eine stationäre Behandlung ist jedoch in speziellen Situationen (sehr schwerer / immobilisierender Schub, Ultra-Hochdosistherapie z.B. mit 2.000 mg/Tag, Begleiterkrankungen, insbesondere psychiatrische Vorerkrankungen, fehlende Unterstützung im privaten Umfeld, Nebenwirkungen bei vorangegangener GKS-Therapie) zu empfehlen.
  • Für den Zeitraum der GKS-Therapie ist eine Magenschutztherapie mit einem Protonenpumpenhemmer obligat.
  • In der Phase der hochdosierten GKS-Gabe ist eine medikamentöse Thromboseprophylaxe (z.B. mit niedermolekularen Heparinen) zu empfehlen. Die Thromboseprophylaxe ist bei immobilisierten Patienten, unter Ultra-Hochdosis-GKS-Therapie und bei Hinweisen auf ein erhöhtes Thromboserisiko aus der Anamnese / Vorgeschichte obligat.
  • Bei Schlafstörungen können vorübergehend kurzwirksame Benzodiazepine gegeben werden. Schlafstörungen treten insbesondere bei nicht-morgendlicher Gabe / Einnahme der Steroide auf.
  • Eine bestehende Immuntherapie für moderate bzw. hochaktive Verlaufsformen der MS muss während der hochdosierten GKS-Therapie nicht unterbrochen werden.

Sollten weitere diagnostische Maßnahmen unter laufender GKS-Therapie erfolgen, ist zu beachten, dass GKS sehr rasch …

… zu einer Rückbildung einer etwaigen Liquor-Pleozytose führen.

… eine bestehende Blut-Hirn-Schrankenstörung bessern und damit in der MRT frische entzündliche Läsionen kein Kontrastmittel mehr aufnehmen. Dies ist insbesondere bei der Anwendung der aktuellen McDonald-Kriterien zur Beurteilung der zeitlichen Dissemination zu berücksichtigen.

Eskalation

Bleiben die Symptome des Schubs auch zwei Wochen nach Beendigung der ersten intravenösen GKS-Pulstherapie funktionell relevant beeinträchtigend, ist eine Eskalation der Schubtherapie zu initiieren.
Als „First line“ gilt die erneute hochdosierte GKS-Therapie – bei schweren Schüben in ultrahoher Dosierung (dies z.B. auch bei einer Optikusneuritis mit unverändert relevanter Visusminderung).
Bei anhaltendem und funktionell relevantem neurologischem Defizit in der standardisierten neurologischen Untersuchung zwei Wochen nach Beendigung auch der zweiten intravenösen GKS-Pulstherapie oder bei einem unter GKS-Therapie progressiven besonders schweren Schub muss eine Apherese-Therapie erwogen werden („second line“ der Eskalationstherapie). Ob die Aphereseverfahren der GKS-Therapie schon als „first line“ überlegen sind, ist noch Gegenstand laufender Untersuchungen.
Vor Beginn der Eskalation der Schubtherapie muss eine erneute neurologische Untersuchung mit Dokumentation des neurologischen Status erfolgen. Zudem soll vor Beginn der Eskalationstherapie eine Kontrolle der Routinelaborparameter (Blutbild mit Differenzialblutbild, Elektrolyte (Na+/ K+), Blutzucker und Leberenzyme) erfolgen (obligat).

Erneute GKS-Therapie

Falls es nach der ersten hochdosierten GKS-Therapie zu einem Anstieg der Leberenzyme gekommen war, sollte die zweite Gabe nach Rücksprache mit einem Hepatologen und unter engmaschiger Kontrolle der Leberenzyme erfolgen.

  • Standarddosis: 1.000mg Methylprednisolon i.v. täglich über fünf Tage.
  • Ultra-Hochdosis: 2.000 mg Methylprednisolon i.v. täglich über fünf Tage.

Eine erneute dokumentierte Aufklärung ist obligat. Ein erneutes anschließendes orales Ausschleichen kann je nach Symptomremission und Verträglichkeit erwogen werden.

Bei Reaktivierung der Schubsymptomatik und initial gutem Ansprechen auf die erste GKS-Therapie wird üblicherweise ein erneuter GKS-Puls in Standarddosis durchgeführt, bei bislang nicht-responsivem oder sich verschlechterndem Schub die Ultra-Hochdosis gewählt.

Plasmapherese bzw. Immunadsorption

Apheresetherapien (Plasmapherese [Plasma exchange, PE] bzw. lmmunadsorption [IA]) sollten in darauf spezialisierten MS-Zentren unter stationären Bedingungen durchgeführt werden. Die PE-/IA-Behandlung bedarf einer Aufklärung des Patienten in schriftlicher Form.

Es ist unklar, ob eines der beiden Aphereseverfahren überlegen ist; die meisten Daten liegen jedoch für die PE vor. In der Regel werden fünf Apherese-Behandlungen durchgeführt. Im Einzelfall kann bei verzögertem Ansprechen auf sieben bis acht Anwendungen erweitert werden. Die Wahrscheinlichkeit einer Besserung von nicht steroidresponsiven Schüben durch die PE liegt je nach Studie zwischen 40 und 90% und ist abhängig vom Zeitraum zwischen Schubbeginn und Apheresebeginn. Daher ist ein früher Beginn der Apherese anzustreben. Ein Ansprechen nach längerem Intervall zwischen Schubmanifestation und Beginn ist aber in Einzelfällen beschrieben.

Bei der Apherese handelt es sich um ein invasives Verfahren. Nebenwirkungen und mögliche Komplikationen sind unter anderem

  • Blutdruckregulationsstörungen
    (ACE-Hemmer, wenn möglich, > 24h aussetzen).
  • Nierenschäden, Volumenbelastung (bei PE / IA).
  • Tetanie-Symptome durch Elektrolytverschiebungen (bei PE).
  • Gerinnungsstörungen (v.a. bei PE).
  • Nebenwirkungen und Komplikationen einer mitunter notwendigen Antikoagulation (bei PE / IA).
  • Allergische Symptome auf Albumin / FFP oder Membranen (bei PE / IA).
  • Mechanische Irritationen oder Komplikationen (z.B. Blutungen oder Thrombosen) durch die großvolumigen Zugänge (zentraler Venenkatheter oder Shaldon-Katheter) (bei PE / IA).
  • Infektionen an der und über die Punktionsstelle bis hin zur Sepsis (bei PE/IA).
  • Auftreten eines Lungenödems / transfusionsbezogenen akuten Lungenversagens (TRALI) (sehr selten) (bei PE).

In Einzelfällen kann von der stufenweisen Eskalation der MS-Schubtherapie abgewichen werden. Die Apherese-Behandlung kann bereits zu einem früheren Zeitpunkt erfolgen, insbesondere wenn

  • die individuelle Situation des Patienten eine ultrahochdosierte intravenöse GKS-Pulstherapie nicht ermöglicht oder
  • der Patient bei einem vorausgehenden Schub bereits sehr gut auf eine PE angesprochen hat oder
  • sich die neurologische Symptomatik unter Steroidtherapie weiter rasch verschlechtert.

Umgekehrt ist aber auch die Invasivität der Apherese-Behandlung bei der Indikationsstellung zu beachten. Nicht jedes persistierende Schubsymptom rechtfertigt das Risiko einer Apherese. Voraussetzung ist vielmehr ein anhaltend deutlich EDSS-wirksames oder ein einzelnes funktionelles System stark beeinträchtigendes und damit objektiv behinderndes Defizit (Beispiele für typische, aber nicht ausschließliche Indikationen: schwere Optikusneuritis mit Visus ≤0,5, höhergradige Paresen, schwere Hirnstamm- oder spinale Symptome mit Verlust der Gehfähigkeit).

Besondere Hinweise

Schwangerschaft und Stillzeit

  • Eine GKS-Applikation in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten erhöht möglicherweise das Risiko eines Abortes und das Risiko für fetale Missbildungen (v.a. Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte), sodass die Indikation für eine hochdosierte GKS-Therapie in dieser Zeit sehr streng gestellt werden sollte.
  • Tritt ein Schub im zweiten oder dritten Trimenon der Schwangerschaft auf, kann mit hochdosierten GKS behandelt werden. Dabei sollte bevorzugt Prednisolon gegeben werden, das nur zu ca. 10% plazentagängig ist. Wegen der typischen Nebenwirkungen der GKS (z.B. diabetogene Stoffwechsellage) sollte eine besonders sorgfältige Überwachung der Schwangeren erfolgen.
  • Bei Mehrfachbehandlungen mit Steroiden kann es zur intrauterinen Wachstumsretardierung (IUGR), zur Frühgeburt sowie zur vorübergehenden Hypoglykämie, Hypotonie und Elektrolytstörungen beim Neugeborenen kommen.
  • Die Immunadsorption ist eine Alternative zu (mehrfachen) Steroidbehandlungen, insbesondere im ersten Trimenon.
  • Protonenpumpenhemmer (z.B. Omeprazol) als Magenschutz können gegeben werden.
  • Da es postpartal zu einem Anstieg der Schubrate kommt, kann eine hochdosierte GKS-Therapie während der Stillperiode erforderlich werden. Ein Abstillen ist dazu nicht zwingend erforderlich und auch eine Stillkarenz von vier Stunden nach Verabreichung der GKS wird nicht mehr obligat empfohlen (siehe hierzu auch Spezialsituationen).

Impfungen

Detaillierte Empfehlungen zu Impfungen unter MS-Therapien siehe Spezialsituationen.

Während einer hochdosierten Therapie mit Glukokortikosteroiden 

  • ist die Impfung mit Totimpfstoffen möglich. Idealerweise wird jedoch ein Abstand von 2 bis 4 Wochen eingehalten.
  • ist die Impfung mit attenuierten Lebendimpfstoffen kontraindiziert. Die GKS-Therapie muss mindestens 2 Monate beendet sein, bevor geimpft werden kann.

Autoren

  • Prof. Dr. Achim Berthele

    Neurologische Klinik und Poliklinik des Klinikums rechts der Isar, TU München

  • Prof. Dr. Tania Kümpfel

    Institut für Klinische Neuroimmunologie, LMU-Klinikum, München

Weitere Informationen unter „Credits“.

WORKFLOW-TABELLE

VOR der Therapie
WÄHREND der Therapie
ESKALATION der Therapie
Erläuterung

Autoren

Prof. Dr. Achim Berthele

Neurologische Klinik und Poliklinik des Klinikums rechts der Isar, TU München

Prof. Dr. Tania Kümpfel

Institut für Klinische Neuroimmunologie, LMU-Klinikum, München