MS

Dimethyl­­fumarat

Indikation

Dimethylfumarat ist in Deutschland zur Therapie von Erwachsenen und Kindern ab 13 Jahren mit schubförmiger remittierender Multiplen Sklerose zugelassen. Das KKNMS empfiehlt den Einsatz von Dimethylfumarat bei Patienten mit milder / moderater Verlaufsform einer schubförmigen MS.

In einer randomisierten kontrollierten Studie wurde gezeigt, dass Dimethylfumarat bei Patienten mit Radiologisch-isoliertem Syndrom (RIS) das Risiko für das Auftreten eines ersten Schubs hochsignifikant reduziert (HR=0.18). Dimethylfumarat ist bisher nicht zur Behandlung des RIS zugelassen.

Kontraindikationen

Dimethylfumarat ist kontraindiziert bei …

  • Kindern unter 13 Jahren. Es sind zwar keine Nebenwirkungen bekannt, die spezifisch Kinder in der frühen Entwicklung betreffen, trotzdem sollte Dimethylfumarat zunächst nicht bei pädiatrischen MS-Patienten unter 13 Jahren angewandt werden, da keine ausreichenden Studiendaten zur Wirksamkeit und Sicherheit vorliegen.

Die Dosierung ist bei erwachsenen Patienten sowie bei Kindern und Jugendlichen ab 13 Jahren gleich. Für Kinder im Alter von 10 – 12 Jahren liegen nur begrenzte Daten vor und eine Dosierungsempfehlung kann nicht gegeben werden.

  • Schwangerschaft und während der Stillzeit, da mögliche embryotoxische Wirkungen nicht ausreichend untersucht worden sind und nicht gänzlich ausgeschlossen werden können.

Aus der langjährigen Erfahrung mit über 550.000 weltweit behandelten Patienten mit Dimethylfumarat, bei denen mehr als 300 Schwangerschaften aufgetreten sind, hat sich kein erhöhtes Risiko von embryotoxischen Wirkungen oder einer erhöhten Abortrate gezeigt. Im Fall einer ungeplanten Schwangerschaft unter Dimethylfumarat sollte die Therapie abgesetzt werden. Ein zentrales Schwangerschaftsregister für Dimethylfumarat ist in Deutschland etabliert (Frau Prof. Dr. Kerstin Hellwig, Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum, St. Josef-Hospital).

  • Überempfindlichkeit oder Allergien gegen Dimethylfumarat oder sonstige Bestandteile des Präparats.
  • vermuteter oder bestätigter progressiver multifokaler Leukenzephalopathie (PML).

Eine relative Kontraindikation besteht bei …

  • vorbestehender schwerer Lymphopenie von < 500/ul.
  • chronischen Infektionskrankheiten wie HIV, Hepatitis B und C, da ein negativer Effekt auf die Immunkompetenz im Rahmen dieser Erkrankungen nicht auszuschließen ist.
  • schweren Leberfunktions- und Nierenerkrankungen.
  • schweren Erkrankungen des Gastrointestinaltrakts wie Geschwüren des Magens und Zwölffingerdarms oder bei chronisch-entzündlichen Erkrankungen des Darms, u.a. M. Crohn oder Colitis ulcerosa.

Dosierung

Dimethylfumarat wird als Hartkapsel (240 mg) zweimal täglich oral eingenommen. Zu Beginn der Therapie ist auf eine langsam aufdosierende Dimethylfumarat-Gabe zu achten (obligat), da sich dadurch eine Reduktion der gastrointestinalen Nebenwirkungen und des Flushings erzielen lässt und die Gesamtverträglichkeit deutlich steigt. Aufgrund bisheriger klinischer Erfahrungen schlagen wir eine Aufdosierung nach folgendem Schema vor:

Woche1234
Dosierung morgens120 mg120 mg240 mg240 mg
Dosierung abends (bis 120 mg)120 mg
(bis 240 mg)
120 mg
(bis 240 mg)
240 mg

Aus klinischer Erfahrung ist anzumerken, dass die Verträglichkeit von Dimethylfumarat zu den Mahlzeiten und v.a. nach Einnahme von Milchprodukten besser ist.

In den Zulassungsstudien wurde Dimethylfumarat in den Dosierungen 480 mg (2x 240 mg) und 720 mg (3x 240 mg) täglich untersucht. Dabei zeigte sich in den meisten Untersuchungsparametern keine Überlegenheit der höheren Dosis, sodass die Zulassung für 480 mg täglich beantragt wurde.

Pharmakokinetik

  • Es ist bekannt, dass die Absorption des aktiven Metaboliten, Monomethylfumarat, fast vollständig im Duodenum erfolgt; die Abspaltung einer Methylgruppe kann über Säurebildung zu den gastrointestinalen Reizerscheinungen führen. Dimethylfumarat wird größtenteils bereits sehr früh im Darm vollständig mittels Esterasen zu Monomethylfumarat hydrolysiert und gelangt so nicht in den systemischen Kreislauf.
  • 210 Minuten nach Aufnahme erreicht Monomethylfumarat die höchste Plasmakonzentration und hat eine Plasma-Halbwertszeit von ca. 30 – 60 Minuten.
  • Monomethylfumarat wird hauptsächlich über die Atemluft, in geringeren Mengen aber auch über den Urin und Stuhl ausgeschieden.

Nach der Aufnahme konnte Dimethylfumarat in den bisherigen Untersuchungen nicht im Plasma nachgewiesen werden. Dabei ist noch nicht vollständig geklärt, ob und wann Dimethylfumarat u.a. mit dem Immunsystem interagiert.

Die Nachfolgesubstanz, Diroximelfumarat, ein Prodrug, das rasch zum aktiven Molekül Monomethylfumarat (MMF) umgewandelt wird und durch Abspaltung einer Ringstruktur im Duodenum eine bessere Verträglichkeit verspricht, ist seit 2022 in Deutschland verfügbar.

Pharmakodynamik

Der Wirkmechanismus von Dimethylfumarat bei MS ist nicht vollständig geklärt. Während ältere Studien aus der Dermatologie die Lymphopenie als eine Hauptwirkung unter dem Fumarsäureester-Gemisch vermuteten, zeigen Folgearbeiten eine Reihe pleiotroper Wirkungen, auch unabhängig von der häufig beobachteten Lymphopenie. Hierzu gehören:

  • der Anstieg immunmodulatorischer (T-Helfer 2 vermittelt durch Aktivierung von Typ2 dendritischer Zellen) und regulatorischer T-Zellen
  • die Reduktion proinflammatorischer (T-Helfer 1) T-Zellen und zytotoxischer (CD8+) T-Zellen durch intrazelluläre Reduktion des Reaktive Sauerstoff-Spezies (ROS)-Fängers Glutathion und nachfolgende Störung des Energiemetabolismus und T-Zell Apoptose
  • nicht-immunologische Wirkung im zentralen Nervensystem über die Aktivierung anti-oxidativer Gene (Nrf2)

Diagnostik || vor Therapiebeginn

Anamnese und klinische Untersuchung zu möglichen Kontraindikationen

Durch eine sorgfältige Anamnese und klinische Untersuchung sollte vor Beginn der Behandlung gezielt nach möglichen Kontraindikationen gesucht werden. Anamnese und Untersuchung müssen detailliert dokumentiert werden (obligat).

Labor-Basisprogramm

  • Routinelaborparameter: Vor Beginn der Therapie sollten ein Differenzialblutbild und die Leber- bzw. Nierenfunktionswerte bestimmt werden (GGT, GOT, GPT, Kreatinin und Proteinurie) (obligat). Aufgrund möglicher (schwerer) Diarrhoen besonders zu Anfang der Therapie sollten die Elektrolyte (K, Na, Cl) bestimmt werden (obligat). Die Elektrolyte sowie Leberenzyme sollten im Normbereich des im jeweiligen Labor gemessenen Messbereichs liegen.
  • Entzündungs- und Infektionsparameter: Vor Beginn der Therapie mit Dimethylfumarat sollten bei allen Patienten eine akute Entzündung (CRP, Urinstatus) und chronische Infektionskrankheiten, wie Hepatitis B und C bzw. HIV, nach Aufklärung ausgeschlossen werden (fakultativ). Bei Verdacht auf Tbc in der Vorgeschichte oder bei Personen mit erhöhter individueller Risikosituation sollte ein TB-Test (z.B. Quantiferon-Test, T Spot-Test) durchgeführt werden (obligat). Bei positivem Testergebnis muss die Gefahr einer Tbc-Reaktivierung abgeklärt werden (Röntgen-Thorax und ggf. weitere Diagnostik) (obligat).
  • Schwangerschaftstest: Bei Patientinnen im gebärfähigen Alter sollte vor Therapiebeginn ein negativer Schwangerschaftstest vorliegen (obligat).

Radiologische Diagnostik

Ein Ausgangs-MRT des Schädels mit Kontrastmittel muss vor Behandlungsbeginn mit Dimethylfumarat für eine korrekte Indikationsstellung und als Ausgangsbefund für den weiteren Therapieverlauf vorliegen (nicht älter als drei Monate) (obligat).

Verschiedene Publikationen beschreiben Ablagerungen bzw. Signalveränderungen in speziellen Hirnarealen nach mehrmaligen Kontrastmittelgaben. Ein Krankheitsbild oder Symptome sind auf diese jedoch bislang nicht zurückzuführen. Das KKNMS empfiehlt, bei der Diagnosestellung weiterhin gadoliniumhaltige Kontrastmittel einzusetzen, um die Diagnose nicht zu verzögern und ein aussagekräftiges, standardisiertes Ausgangs-MRT zu erzielen. Im Krankheitsverlauf kann dann auf die Kontrastmittelgabe verzichtet werden, solange kein klinischer Anhaltspunkt für einen Krankheitsprogress vorliegt und wenn leitliniengerechte MRT-Kontrollen unter Therapie routinemäßig durchgeführt werden.

Dokumentierte Aufklärung der Patienten über Therapie und Risiken

Eine standardisierte Aufklärung mit schriftlicher Einwilligungserklärung zur Therapie muss vorliegen (obligat). Über mögliche spezifische Nebenwirkungen und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen muss aufgeklärt werden. Hierbei muss insbesondere auf folgende Aspekte eingegangen werden:

  • Beschwerden des Magen-Darm-Systems, wie Durchfall (14%), Übelkeit (12 %), Oberbauchschmerzen (10 %), Abdominalschmerzen (9%) und Erbrechen (8 %). Diese waren zu Beginn häufiger und klangen meist nach einigen Wochen ab. Nach vier Wochen berichteten noch 6 % der Patienten, die Dimethylfumarat einnahmen, über Magen-Darm-Beschwerden, aber auch 4 % derjenigen, die ein Placebo bekamen. Nach einem Jahr waren es nur noch 2 %. Treten unter der Behandlung Durchfälle und Erbrechen auf, ist die Wirkung einer oralen Verhütungsmethode nicht mehr zuverlässig.
  • Vorübergehendes Erröten der Haut oder Hitzegfühl („Flush“). Dieses trat am häufigsten (bei 34 % der Patienten) innerhalb der ersten vier Wochen auf. Nach einem Monat war die Gesichtsrötung noch bei 5 % der Patienten nachweisbar, nach einem Jahr bei 3 %. Die Einnahme von Aspirin® (200 – 400 mg) 30 Minuten vor der Einnahme von Dimethylfumarat (Tecfidera®) kann das Flushing mindern. Allerdings sollte Aspirin nach spätestens vier Wochen wieder abgesetzt werden, woraufhin das Flushing zurückkehren kann.
  • Vorübergehende Erhöhung der Leberwerte.
  • Allergische Reaktion: Nach Markteinführung wurden Fälle von Anaphylaxie/allergischer Reaktion nach Einnahme von Dimethylfumarat berichtet. Typische Symptome sind Atemnot, niedriger Blutdruck, Schwellungen (Angioödem), Ausschlag oder Nesselsucht (Urtikaria).
  • Herpes zoster-Infektion und andere Infektionen.
  • Bei 6% eine deutliche Abnahme der Leukozyten im Blut (unter 3.000 Zellen/μl), die zu einer vorübergehenden Einnahmepause führen sollte, um Infektionen zu vermeiden. Insbesondere die Lymphozyten waren dabei betroffen, bei 4% sank die Zahl auf unter 500/µl.
  • In sehr seltenen Fällen – bislang zwölf Fälle aus inzwischen über 595.000 (Stand: September 2023) behandelten Patienten – sind Virus-Infektionen im Gehirn aufgetreten, die sog. progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML). Auf die Notwendigkeit regelmäßiger Blutbilduntersuchungen ist aufmerksam zu machen: In den ersten 12 Monaten unter Dimethylfumarat muss alle sechs bis acht Wochen das Blutbild untersucht werden – in den Folgejahren alle drei bis sechs Monate.

Vortherapien || Abstand und Maßnahmen

Behandlungsnaive Patienten

Behandlungsnaive Patienten

Es ist keine weitere Zusatzdiagnostik über die o.g. Maßnahmen hinaus nötig.

Glatirameracetat oder Interferon-beta

Vorbehandlung mit Glatirameracetat oder Interferon-beta

Es ist kein besonderer Sicherheitsabstand notwendig. Eventuelle Effekte jener Therapien auf Blutbild und Leberwerte oder andere Laborparameter sollten abgeklungen sein. Es ist keine weitere Zusatzdiagnostik über die o.g. Maßnahmen hinaus nötig.

Eine Umstellung von anderen Therapien für milde Verlaufsformen wie Glatirameracetat oder Interferon-beta-Präparaten auf Dimethylfumarat kann notwendig sein, wenn u.a. die Injektionstherapie nicht vertragen wird.

Teriflunomid

Vorbehandlung mit Teriflunomid

Es liegen zwar keine evidenzbasierten Daten hierfür vor, jedoch sollte ein Sicherheitsabstand von mindestens vier Wochen bzw. eine Normalisierung des Differenzialblutbilds nach letzter Gabe eingehalten werden (obligat). Zusätzlich sollten die oben im Detail aufgeführten Sicherheitsuntersuchungen vor Beginn der Therapie mit Dimethylfumarat durchgeführt werden (obligat). Unter Umständen kann eine forcierte Elimination des zirkulierenden Teriflunomid mittels Colestyramin durchgeführt werden.

Fingolimod, Siponimod, Ozanimod oder Ponesimod

Vorbehandlung mit Fingolimod, Siponimod, Ozanimod oder Ponesimod

Bei Umstellung von S1P-Rezeptor-Modulatoren auf Dimethylfumarat muss vor Beginn der Therapie ein Sicherheitsabstand eingehalten werden, der sich nach der Eliminationshalbwertszeit der einzelnen Substanzen (bzw. ihrer bioaktiven Metaboliten) bemisst. Ein Sicherheitsabstand von mindestens vier Wochen nach Absetzen des S1P-Rezeptor-Modulators wird für Fingolimod und Ozanimod empfohlen, während dieser Abstand bei Siponimod und Ponesimod kürzer sein kann (ein bis zwei Wochen). Pharmakodynamische Wirkungen (Senkung der Lymphozyten im peripheren Blut) können aber nachhinken. Daher ist zum Ausschluss einer relevanten Lymphopenie ein Blutbild plus Differenzialblutbild durchzuführen (obligat). Zusätzlich sollten die oben im Detail aufgeführten Sicherheitsuntersuchungen vor Beginn der Therapie mit Dimethylfumarat durchgeführt werden (obligat).

Beim Absetzen von Fingolimod ist zu beachten, dass es bei ca. 10% der mit Fingolimod behandelten Patienten zu einem Rebound-Phänomen mit zum Teil fulminant verlaufenden Schüben kommen kann. In der Regel tritt das Rebound-Phänomen zwei bis vier Monate nach Absetzen von Fingolimod auf. Patienten mit hochaktiver Verlaufsform ihrer MS vor Beginn mit Fingolimod, aber auch Patienten mit unzureichendem Ansprechen auf Fingolimod scheinen eher zu einem Rebound zu neigen. Auch bei anderen S1P-Rezeptor-Modulatoren ist ein Rebound-Phänomen nicht auszuschließen, dabei muss die unterschiedliche Pharmakodynamik der Präparate berücksichtigt werden.

Natalizumab oder Natalizumab-Biosimilar

Vorbehandlung mit Natalizumab oder Natalizumab-Biosimilar

Es liegen zwar keine evidenzbasierten Daten hierfür vor, jedoch sollte im Fall einer Umstellung von Natalizumab auf Dimethylfumarat ein Sicherheitsabstand von mindestens vier bis sechs Wochen nach letzter Gabe eingehalten werden (obligat). Zusätzlich sollten die oben im Detail aufgeführten Sicherheitsuntersuchungen vor Beginn der Therapie mit Dimethylfumarat durchgeführt werden (obligat).

Untersuchungen an 1.866 Patienten, bei denen Natalizumab wegen der ersten PML-Fälle im Jahr 2005 abgesetzt wurde, haben gezeigt, dass meist die Krankheitsaktivität wieder auftritt wie vor Beginn der Therapie. Weitere Untersuchungen inkl. einer Metaanalyse haben gezeigt, dass bei einigen Betroffenen die Schubaktivität vorübergehend sogar stärker ausgeprägt sein kann als zuvor (= Rebound-Phänomen). Durch den plötzlichen Wegfall der Hemmung durch Natalizumab kommt es zu einem verstärkten und raschen Einstrom von Entzündungszellen ins Nervensystem. Die wiederkehrende Erkrankungsaktivität kann bereits vier Wochen nach Absetzen bis hin zu zwölf Monaten danach auftreten, am häufigsten nach 3-4 Monaten.

Azathioprin, Methotrexat, Mitoxantron, Ciclosporin A, Mycophenolat-Mofetil oder Cyclophosphamid

Vorbehandlung mit Azathioprin, Methotrexat, Mitoxantron, Ciclosporin A, Mycophenolat-Mofetil oder Cyclophosphamid

Es ist ein mindestens dreimonatiger Sicherheitsabstand nach letzter Gabe vor Umstellung auf Dimethylfumarat einzuhalten (obligat). Ein Differenzialblutbild vor Therapiebeginn ist auch hier obligat und sollte im Normbereich bzw. die Lymphozytenzahl >800/μl liegen. Zusätzlich sollten die oben im Detail aufgeführten Sicherheitsuntersuchungen vor Beginn der Therapie mit Dimethylfumarat durchgeführt werden (obligat).

Cladribin

Vorbehandlung mit Cladribin

Wenn aufgrund von Nebenwirkungen oder nicht ausreichender Wirksamkeit der Cladribin-Behandlung auf eine andere Immuntherapie umgestellt wird, ist ein Sicherheitsabstand von mindestens sechs Monaten nach dem letzten Behandlungszyklus einzuhalten. Vor Beginn einer anderen Immuntherapie muss ein Differenzialblutbild einschließlich einer Lymphozytentypisierung (CD4+-T-Zellen, CD8+-T-Zellen, B-Zellen und NK-Zellen) erstellt werden (obligat). Regelmäßige Blutbildkontrollen sollten auch nach Therapieende über mindestens fünf Jahre erfolgen (fakultativ). Therapiespezifische Effekte auf das Immunsystem (z.B. Zytopenie) sollten abgeklungen sein.

Bei Umstellung aufgrund von hoher Krankheitsaktivität unter Cladribin-Behandlung muss im Einzelfall über die Wartezeit entschieden werden, und es sollte eine zeitnahe Vorstellung an einem für MS spezialisierten Zentrum erfolgen.

Rituximab, Ocrelizumab, Ofatumumab, Ublituximab oder Alemtuzumab

Vorbehandlung mit Rituximab, Ocrelizumab, Ofatumumab, Ublituximab oder Alemtuzumab

Es muss ein Sicherheitsabstand von mindestens sechs bis zwölf Monaten eingehalten werden (obligat). Entscheidend für die Therapiepause vor Umstellung auf Dimethylfumarat sind allerdings ausführliche Laboruntersuchungen inkl. Differenzialblutbild (obligat) und Immunphänotypisierung (fakultativ) vor Therapiebeginn, die im Normbereich liegen sollten. Zusätzlich sollten die oben im Detail aufgeführten Sicherheitsuntersuchungen vor Beginn der Therapie mit Dimethylfumarat durchgeführt werden (obligat).

Monitoring & Maßnahmen || unter Therapie

Klinisch-neurologische Kontrolle

Es müssen halbjährlich klinisch-neurologische Kontrolluntersuchungen zur Beurteilung des Therapieerfolgs durchgeführt werden (obligat). Gastrointestinale Nebenwirkungen sind am häufigsten unter Dimethylfumarat: In den Zulassungsstudien hatten 14% der Patienten Durchfälle (im Vergleich 10% unter Placebo), 12% Übelkeit (9% unter Placebo) und 10% abdominelle Schmerzen (6% unter Placebo). In der Regel klingen die Beschwerden in den ersten vier bis sechs Wochen ab. Während in den ersten vier Wochen der Zulassungsstudie bei 22% der mit Dimethylfumarat behandelten Patienten gastrointestinale Beschwerden verzeichnet wurden (13% unter Placebo), waren es nach vier Wochen noch 6% (4% unter Placebo) und nach 24 Monaten noch 1% (2% unter Placebo). Dennoch wird empfohlen, zu Beginn der Therapie die Verträglichkeit zu überwachen und ggf. eine vorübergehende Dosisanpassung (nur 240 – 360 mg Dimethylfumarat täglich) vorzunehmen.

Labor-Basisprogramm

Routinelaborparameter: Nach Therapiebeginn muss alle sechs bis acht Wochen eine Blutbilduntersuchung durchgeführt werden (obligat), da mit einer Reduktion der Lymphozytenzahl (um ca. 15 – 30%) zu rechnen ist, die nach zwölf Monaten stabil bleibt. Bei ca. 6% der in den Zulassungsstudien mit Dimethylfumarat behandelten Patienten wurden höhergradige Lymphopenien Grad 3 (< 500 Lymphozyten/μl) beobachtet, im Vergleich dazu sind Lymphopenien bei 1% der mit Placebo behandelten Patienten aufgetreten. Bei Leukopenien unter 3.000/μl oder absoluten Lymphozytenwerten unter 500/μl ist ein Aussetzen der Medikation spätestens nach 3 Monaten angezeigt. Bei Grad-2-Lymphopenien im Bereich von 500 – 800/μl, die länger als 6 Monate anhalten, sollten engmaschige Blutbildkontrollen erfolgen und es ist eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung und vermehrte Vigilanz im Hinblick auf PML angezeigt. Danach sollten Kontrolluntersuchungen bis zur Normalisierung des Blutbilds erfolgen. Sollten nach einem Jahr dauerhafter Therapie die Werte unauffällig sein, so ist danach eine drei- bis sechsmonatliche Kontrolle ausreichend (obligat).

Im Einzelfall kann eine PML unter Dimethylfumarat auch ohne ausgeprägte Lymphopenie auftreten, sodass auch Grad 2-Lymphopenien im Bereich von 500 – 800/μl aufmerksam verfolgt werden müssen.

Radiologische Kontrolle

Zur paraklinischen Beurteilung des Behandlungserfolgs sowie zur möglichen Einschätzung differentialdiagnostisch relevanter Komplikationen der Therapie, insbesondere PML, sollte unter Dimethylfumarat-Therapie alle zwölf Monate eine MRT des Schädels durchgeführt werden (fakultativ). Auf die Kontrastmittelgabe sollte verzichtet werden, wenn es keinen klinischen Anhaltspunkt für einen Krankheitsprogress gibt und eine standardisierte Ausgangs-MRT vorliegt.

Während der Therapie

Schübe, die unter Dimethylfumarat auftreten, können nach Standardvorgaben mit einer Methylprednisolon-Pulstherapie und ggf. einer eskalierenden Schubtherapie mit höheren Cortison-Dosen bzw. Apherese behandelt werden. Die Dimethylfumarat-Therapie kann im Fall eines Schubs fortgesetzt werden, allerdings ist bei Schubereignissen die Indikation zur Eskalation der Therapie (z.B. auf Therapien für hochaktive MS wie Natalizumab, Fingolimod oder eine B-Zell-depletierende Therapie) sorgfältig zu prüfen.

Eine Kombination von Dimethylfumarat mit anderen Immuntherapien ist außerhalb von Studien momentan nicht indiziert.

Besondere Hinweise

Schwangerschaft und Stillzeit

  • Dimethylfumarat sollte in Schwangerschaft und Stillzeit vermieden werden. Dies ist als Vorsichtsmaßnahme zu werten, eine teratogene Wirkung ist bislang aus Schwangerschaftsregistern nicht bekannt. Im Tecfidera®-Schwangerschaftsregister wurden 289 Schwangerschaftsausgänge bei MS-Patientinnen dokumentiert, die Dimethylfumarat in der Frühschwangerschaft ausgesetzt waren. Bei keiner kam es zu Komplikationen, die durch Dimethylfumarat verursacht wurden. Das Risiko einer längeren Exposition gegenüber Dimethylfumarat oder einer Exposition in einem späteren Stadium der Schwangerschaft ist nicht bekannt. Es besteht kein Anlass für einen Schwangerschaftsabbruch, wenn unter Dimethylfumarat Schwangerschaften eintreten. Dennoch sollte die Therapie mit dem Versuch, schwanger zu werden, oder spätestens bei Bekanntwerden der Schwangerschaft abgesetzt werden.
  • Bisher ist nicht bekannt, ob Dimethylfumarat (Tecfidera®) in die Muttermilch übergeht und ein Risiko für das Neugeborene/Kind kann nicht ausgeschlossen werden. Daher sollte Dimethylfumarat in der Stillzeit nicht eingenommen werden.

Impfungen

Es sind keine negativen Auswirkungen von Dimethylfumarat auf den Impferfolg bekannt – in einer klinischen Studie des Herstellers konnten Patienten eine effektive Impfantwort auf Tetanus-, Pneumokokken- und Meningokokken-Antigene entwickeln. Die Anwendung von attenuierten Lebendimpfstoffen ist unter der Therapie mit Dimethylfumarat streng zu stellen (fakultativ). Erste prospektive Daten aus kleinen Studien (n=114) zeigen eine suffiziente Antikörperbildung gegen SARS-Cov-2 mit den mRNA basierten Impfstoffen unter bestehender DMF-Therapie (Sormani et al., 2021).

Detaillierte Empfehlungen zu Impfungen unter MS-Therapien siehe Spezialsituationen.

Seit 2018 ist ein Totimpfstoff gegen VZV (Shingrix®) zur Verhinderung von Herpes-zoster-Infektionen zugelassen. Die STIKO empfiehlt diese Impfung bei allen Personen > 60 Jahren. Bei Personen mit einer Grundkrankheit oder Immunschwäche (wie z.B. durch eine MS-Immuntherapie) empfiehlt die Kommission die Impfung bereits ab einem Alter von 50 Jahren (Indikationsimpfung). Da Zoster bei der Anwendung von Immuntherapien ein häufigeres Problem darstellen kann, kann individuell überlegt werden, den Impfstoff vor Anwendung einer Immuntherapie einzusetzen (off-label).

Infektionen

Sofern keine Lymphopenie oder laborchemischen Hinweise auf Leber- bzw. Nierenfunktionsstörungen bestehen, ist ein vorzeitiges Absetzen von Dimethylfumarat bei Infekten (Ausnahme chronische Infektionen wie HIV oder Hepatitis B / C) oder operativen Eingriffen nicht notwendig (engmaschige perioperative Laborkontrollen in diesen Fällen obligat).

Progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML)

Dimethylfumarat senkt die Anzahl von Leukozyten im peripheren Blut. In 6% der Fälle wurde in den Zulassungsstudien für Tecfidera® eine höhergradige Lymphopenie (< 500/μl) beobachtet. Bei langdauernden Leuko- bzw. Lymphopenien ist von einem erhöhten Risiko für opportunistische Infektionen auszugehen. So wurden bei unsachgemäßem Einsatz des Kombinationspräparats Fumaderm® bzw. gleichzeitigem Einsatz von anderen Immunsuppressiva bei Psoriasis zehn Fälle von progressiver multifokaler Leukenzephalopathie (PML) beobachtet (Stand Juli 2016). In zwei Fällen ging jeweils eine ausgeprägte Leukopenie von zwei bzw. fünf Jahren Dauer voraus, ohne dass eine Dosierungspause eingelegt wurde; in einem dritten Fall war eine Behandlung mit Efalizumab für ein Jahr durchgeführt worden, bevor sich nach zweijähriger Fumaderm®-Therapie die PML manifestierte. Nach nunmehr ca. 595.000 behandelten Patienten sind zwölf Fälle von PML, darunter ein fatal verlaufender Fall bei einer Patientin unter Tecfidera® beschrieben worden (Stand September 2023). Die Patientin wurde vor der Therapie mit Tecfidera® nicht mit einer immunsuppressiven Substanz vorbehandelt. Auch hier hat nach den verfügbaren Informationen in einem Gesamt-Therapiezeitraum von 54 Monaten eine Lymphopenie über 3,5 Jahre bestanden (fluktuierend zwischen 290 und 580 Zellen/μl).

Grundsätzlich empfehlen wir weiterhin wie in den ersten Jahren nach Zulassung von Tecfidera® oder generischer Präparate engmaschige Blutbildkontrollen und bei Auftreten von Leuko- bzw. Lymphopenien ggf. eine Therapiepause. Ausgehend von der Annahme, dass eine Leukopenie/Lymphopenie das Hauptrisiko für die Entwicklung der PML darstellt, sind im ersten Jahr Blutbildkontrollen alle sechs bis acht Wochen obligat, um ggf. rechtzeitig eine Intervention einleiten zu können, z.B. Therapiepause (siehe Labor-Basisprogramm).

Um die Sicherheit dem aktuellen Kenntnisstand weiter anzupassen, müssen auch Grad-2-Lymphopenien im Bereich von 500 – 800/μl aufmerksam verfolgt werden. Hier sind ein vermehrtes, vierwöchentliches Monitoring des Differenzialblutbilds und eine enge klinische Vigilanz sinnvoll, d.h. alle drei Monate neurologische Untersuchungen. Die Schwelle für die Erhebung von Zusatzinformationen mittels MRT-Bildgebung sollte niedrig sein.

Möglicherweise spielen das Alter der Patienten und die Dauer der MS-Erkrankung eine Rolle bei der Entwicklung einer PML. Die meisten PML-Fälle unter Tecfidera® sind bei Patienten im Alter zwischen 50 und 70 Jahren aufgetreten. Besonders achtsam sollte daher mit Patienten über 50 Jahren umgegangen werden.

Flushing

In den ersten vier Wochen traten bei bis zu 31% der Patienten vorübergehende Hautrötungen (sog. Flushing) auf. Bei regelmäßiger Einnahme bessern sich diese nach einem Monat bei den meisten Patienten, sodass nur noch etwa 5% davon betroffen sind. Eine vorherige Therapie mit ASS (Dosierung einmalig 200 bis 400 mg ca. 30 Minuten vor jeder Einnahme des Dimethylfumarat) kann das Flushing mindern, wie eine kürzlich durchgeführte Studie zeigte. Da in aller Regel mit einem Rückgang bzw. Sistieren des Flushing nach ca. vier bis sechs Wochen gerechnet werden kann, sollte dann auch das ASS wieder abgesetzt werden. Alternativ können vorübergehend auch Antihistaminika, bevorzugt ohne sedierende Komponente, eingesetzt werden.

Ältere Menschen

In den klinischen Studien zu Dimethylfumarat (Tecfidera®) wurden nur eine begrenzte Anzahl von Patienten im Alter von 55 Jahren und älter und keine ausreichende Anzahl von Patienten im Alter von 65 Jahren und älter untersucht, um feststellen zu können, ob diese auf das Arzneimittel anders reagieren als jüngere Patienten. Aufgrund der Wirkungsweise von Dimethylfumarat (Tecfidera®) gibt es keine theoretische Begründung für eine erforderliche Dosisanpassung bei älteren Patienten.

Dauer der Therapie

Die Dauer der Dimethylfumarat-Therapie ist derzeit nicht begrenzt. Die Indikation der Therapiefortführung sollte im Rahmen von regelmäßigen klinischen und paraklinischen Untersuchungen sorgfältig überprüft werden. Dabei ist selbstverständlich die Verträglichkeit zu berücksichtigen und eine rigorose Nutzen-Risiko-Abwägung vorzunehmen.

Autoren

  • Prof. Dr. Ralf Gold

    Neurologische Klinik der Ruhr-Universität Bochum

  • Prof. Dr. Aiden Haghikia

    Neurologische Klinik. Otto von Guericke-Universität Magdeburg

  • Prof. Dr. Ingo Kleiter

    Marianne-Strauß-Klinik, Behandlungszentrum Kempfenhausen für Multiple Sklerose Kranke gGmbH, Berg

Weitere Informationen unter „Credits“.

Patientenaufklärung

Das KKNMS stellt einen Patientenaufklärungsbogen zur Therapie mit Dimethylfumarat für Sie bereit.

Patientenaufklärungsbogen zur Therapie mit Dimethylfumarat (PDF)

WORKFLOW-TABELLE

VOR der Therapie
WÄHREND der Therapie
Erläuterung

Autoren

Prof. Dr. Ralf Gold

Neurologische Klinik der Ruhr-Universität Bochum

Prof. Dr. Aiden Haghikia

Neurologische Klinik. Otto von Guericke-Universität Magdeburg

Prof. Dr. Ingo Kleiter

Marianne-Strauß-Klinik, Behandlungszentrum Kempfenhausen für Multiple Sklerose Kranke gGmbH, Berg